Drei Typen von Deportationsorten

Grob lassen sich also drei Typen von Deportationsorten für Wiener Jüdinnen und Juden unterscheiden: Ghettos; monofunktionale „Vernichtungslager“ bzw. Tötungsstätten und multifunktionale „Konzentrationslager“ bzw. ähnliche Lager.

 

Jüdische Ghettos in den besetzten Gebieten im Osten: Nach der Eroberung Polens wurde die jüdische Bevölkerung Polens überwiegend in Ghettos im „Generalgouvernement“ gezwungen, die zwar nur zum Teil physisch abgetrennt waren aber nur unter Todesdrohung verlassen werden konnten. In den Ghettos herrschten räumliche Enge, Lebensmittelknappheit und schlechte hygienische Verhältnisse; die medizinische Versorgung war unzureichend, die willkürliche Gewalt der Besatzer bedrohlich nahe. Generalgouverneur Frank erließ bereits am 26.10.1939 eine Verordnung zur jüdischen Zwangsarbeit. In diese Ghettos wurden beginnend 1940, vor allem aber 1941 und auch noch 1942 Jüdinnen und Juden aus dem „Altreich“ und der nunmehrigen „Ostmark“ „umgesiedelt“. In den von Nazi-Deutschland eroberten Gebieten Osteuropas bestanden schlussendlich ungefähr 1.150 derartige Ghettos, die wesentlich zur Isolierung, Enteignung und Beraubung und generellen Schwächung der jüdischen Bevölkerung beitrugen. In ihnen kamen nach groben Schätzungen zwischen 600.000 bis eine Million Juden und Jüdinnen ums Leben. In polnischen, baltischen und weißrussischen Ghettos ermordeten deutsche Einsatztruppen unter Beteiligung lokaler Hilfskommandos tausende Ghettobewohner durch Massenerschießungen, auch um Platz zu schaffen für Deportationen aus dem Deutschen Reichsgebiet. Aber schon ab 1942 wurden erste Ghettos wieder aufgelöst, manchmal begleitet von der Errichtung von Konzentrationslagern vor Ort. Die Ghetto Insassen wurden in Abhängigkeit von ihrer eingeschätzten Arbeitsfähigkeit entweder an Ort und Stelle ermordet, in Vernichtungslager deportiert und ermordet oder für Zwangsarbeiten in den Konzentrationslagern und ihren Außenstellen selektiert.

Die ersten fünf Transporte aus Wien in polnische Ghettos mit insgesamt 5.031 Personen erfolgten im Februar und März 1941. Sie führten in die Kleinstädte Kielce, Łagów/Opatów, Modliborzyce und Opole im „Generalgouvernement“. Für die Verpflegung und Unterbringung mussten die lokalen jüdischen Gemeinden sorgen, die dafür in keiner Weise gerüstet waren. Die Deportierten konnten noch rund ein Jahr mit Verwandten und Freunden in der Heimat brieflich kommunizieren: Sie schilderten die erbärmlichen Verhältnisse und baten um Hilfslieferungen, die teilweise auch noch bei den Deportierten eintrafen. Diese Briefe schürten in Wien die Angst vor weiteren Deportationen. Diese wurden wegen der in Vorbereitung befindlichen Kriege gegen Jugoslawien, Griechenland und die Sowjetunion dann für ein paar Monate gestoppt. Der Wiederbeginn der Deportationen aus Wien ab Oktober 1941 löste Angst und Verzweiflung unter den Juden Wiens aus und führte zu zahlreichen Selbstmorden und Selbstmordversuchen. Tatsächlich fand der Großteil der Deportationen aus Wien zwischen Oktober 1941 und Oktober 1942 bereits im Kontext der beschlossenen „Endlösung“ statt: Ein Teil ging weiterhin in Ghettos, ein Teil gleich in Vernichtungslager. Die Ghettos waren Zwischenstationen, aber vermehrt auch Ort von Mordaktionen. Die meisten Ghettotransporte führten nach Lódz/Litzmannsstadt („Gau Wartheland“), Riga und Minsk (beide „Reichskommissariat Ostland“). Nach Lodz ergingen fünf Transporte mit 4995 Personen (ein großer Teil der Deportierten wurde später im Konzentrationslager Chelmno in Gaswagen ermordet); vier Transporte mit 4.188 Personen gingen nach Riga (Ermordung zum Teil vor Ort) und ein Transport mit 999 Personen nach Minsk (großteils Ermordung vor Ort). Die weiteren Transporte nach Minsk wurden in das nahe gelegene ehemals landwirtschaftliche Gut Maly Trostinec geführt, wo Mordkommandos fast alle Deportierten unmittelbar nach ihrer Ankunft ermordeten (s.u.). Ein für das Ghetto in Riga gedachter Transport mit 995 Personen endete in Kowno/Kaunas, wo alle Deportierten auf der Stelle erschossen wurden. Zwischen April und Juni 1942 wurden auch die Transporte in Kleinstädte im „Generalgouvernement“ wieder aufgenommen: Zielorte waren die Ghettos von Izbica (4 Transporte, 4.006 Personen) und Wlodawa (1 Transport, ca. 1.000 Personen). Die Ghettos dienten nur als Zwischenstationen. Vielfach verlieren sich die Spuren dieser Deportierten; vermutlich wurden die meisten in den Vernichtungslagern Belzec und Sobibor (s.u.) ermordet. Vereinzelt erreichten noch Briefe mit drastischen Schilderungen der Lebensverhältnisse und Bitten um Sendung von Hilfsgütern die Wiener jüdische Gemeinde. Große Beunruhigung lösten in Wien die Schilderungen über Mordaktionen an der lokalen jüdischen Bevölkerung aus.

Im Juni 1942 begannen Deportationen in das Ghetto Theresienstadt im „Protektorat Böhmen und Mähren“; bis Oktober 1942 ergingen insgesamt 13 große Transporte aus Wien dorthin, zwischen Jänner 1943 und März 1945 mehrere kleine; insgesamt wurden 15.122 Personen aus Wien nach Theresienstadt deportiert. Theresienstadt war ein Sonderfall unter den Ghettos: Es diente als „Vorzeigeghetto“ für Propagandazwecke und war vor allem auch für „prominente“ oder „verdiente“ Jüdinnen und Juden gedacht. Dennoch waren die hygienischen Bedingungen, die Ernährung und die Krankenversorgung sehr dürftig, verschärft noch durch die allgemeine Arbeitspflicht, sodass bis Kriegsende etwa 40% der in Theresienstadt gefangen gehaltenen Jüdinnen und Juden dort umkamen; rund die Hälfte wurde zwischen August 1942 und Oktober 1944 nach Auschwitz, Treblinka und Maly Trostinec weiter verschickt und großteils ermordet. Theresienstadt war dennoch der Deportationsort mit der größten Überlebenschance: Immerhin 1.318 Deportierte (ca. 9%) überlebten dort bis zur Befreiung 1945.

 

„Vernichtungslager“: Als die Vernichtung des europäischen Judentums beschlossene Sache war, ließ das NS-Regime im „Generalgouvernement“ im Rahmen der so genannten „Aktion Reinhardt“ (benannt nach Reinhard (sic!) Heydrich, gestorben in Folge eines Attentats in Prag im Mai 1942) drei „Vernichtungslager“ in Belzec, Sobibor und Treblinka errichten. Sie sahen für die überwiegende Zahl der zur Ermordung bestimmten Opfer erst gar keine Unterbringung und Versorgung vor, waren vielmehr reine Tötungsstätten und funktionierten nach den gleichen Organisationsprinzipien (die zunächst in Belzec erprobt wurden): Errichtet in dünn besiedelten Gebieten in der Nähe von Eisenbahnlinien waren sie in ihren Ausmaßen eher klein. Zur Anwendung wurde eine neue, entpersönlichte Methode der Massentötung gebracht: die Vergiftung in Gaskammern, die zuvor im „Euthanasieprogramm“ (Ermordung von unheilbar kranken und behinderten Personen) im Deutschen Reich mit Gaswagen und in Gaskammern angewendet worden war – anfangs nicht durch giftiges Gas (Zyklon B) sondern durch Kohlenmonoxyd (Abgase von Verbrennungsmotoren), das zur Erstickung führte. In jedem Lager waren nur ca. 20 bis 30 Mann deutsches Personal zur Organisation und Überwachung eingesetzt. Je ca. 100 bis 120 Mann überwiegend ukrainische „Freiwillige“ trieben die aus den Zügen taumelnden Menschen zunächst in Auskleide-Kabinen, wo ihnen auch Geld und Wertsachen abgenommen und die Frauen rasiert wurden, und trieben sie dann nackt unter Schlägen und Beschimpfungen durch enge Gänge in Richtung der Gaskammern. Der Todeskampf der Opfer dauerte 20 bis 30 Minuten. Eile, Terror und Täuschung ermöglichten einen relativ „reibungslosen“ Ablauf der Mordaktionen. Die nicht gehfähigen Personen waren bereits vorher abgesondert und abseits erschossen worden. Selektiert wurden auch jüngere (noch) kräftige jüdische Männer als Arbeitssklaven: Sie mussten die Züge und Gaskammern reinigen, Gepäck, Kleidung und Wertsachen der Ermordeten sortieren und verpacken, die Leichen aus den Gaskammern holen, in große Gruben schlichten und mit Erde bedecken. Vorher wurden den Ermordeten noch Goldzähne ausgebrochen und Ringe von den Fingern gezogen. Die Mitglieder dieser im Durchschnitt ca. 1.000 Personen umfassenden „Sonderkommandos“ wurden ihrerseits periodisch ermordet und ersetzt. Als die Geruchsentwicklung durch die verwesenden Leichen weit über die Lager hinaus zu einem Problem wurde, ging man zur Verbrennung der Leichen über. Als später die russischen Truppen Richtung Westen vordrangen, mussten „Arbeitsjuden“ die halbverwesten Leichen wieder exhumieren und verbrennen. Ähnlich funktionierten auch die Tötungsstätten in Chelmno/Kulmhof, Maly Trostinec und Majdanek/Lublin.

Von Wien aus führte nur ein direkter Transport in eines der drei Vernichtungslager der „Aktion Reinhardt“, nämlich nach Sobibor mit 996 Personen. Zur hauptsächlichen direkt angefahrenen Tötungsstätte für Wiener Jüdinnen und Juden wurde Maly Trostinec bei Minsk (9 Transporte, 8.472 Personen), wo die meisten Opfer umgehend erschossen, später auch in Gaswagen erstickt wurden. Über Zwischenstationen gelangten Wiener Jüdinnen und Juden auch in die Vernichtungslager Belzec und Treblinka sowie nach Chelmno und Majdanek.

Eine Sonderstellung nimmt das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau im „Gau Oberschlesien“ ein, weil dort neben der sofortigen Selektion der als „unproduktiv‘“ eingeschätzten Personen und deren Ermordung in den Gaskammern auch die Ausbeutung der Arbeitskraft der (Noch)-Arbeitsfähigen, also die „Vernichtung durch Arbeit“, eine große Rolle spielte. Der Vollausbau des Lagers wurde erst nach dem Ende der großen Transporte aus Wien erreicht. Daher erging nur ein großer Transport mit 995 Personen direkt von Wien aus dorthin; inklusive weiterer kleiner Transporte waren es schließlich 1.567 Personen. Dass Auschwitz dennoch ein Ort war, an dem besonders viele jüdische Menschen aus Österreich ermordet wurden, hat damit zu tun, dass mehr als 4.000 Personen von Theresienstadt (s.o.) dorthin deportiert wurden.

 

Konzentrationslager: Entgegen verbreiteten Vorstellungen ist die Gleichsetzung von Konzentrationslager und Judenverfolgung stark vereinfacht. Konzentrationslager waren vom Beginn an Teil der NS-Herrschaft: Sie standen unter dem Regime der SS und dienten der pseudo- und extralegalen Freiheitsberaubung, Misshandlung, Folter, Zwangsarbeit und Ermordung. Entlassungen gab es nur in der ersten Zeit des Bestands, dann kam eine KZ-Einweisung über kurz oder lang in den meisten Fällen einem Todesurteil gleich. Waren es anfänglich vor allem die politischen Gegner, die durch KZ-Haft auf Dauer ausgeschaltet und vernichtet werden sollten, so wurde die „Schutzhaft“ schon bald auf diverse „Volksschädlinge“ (Bettler, Landstreicher, „Zigeuner“, „Arbeitsscheue“ etc.) ausgedehnt, dann allgemein auf Kriminelle und „Asoziale“. Die „Haftgründe“ wurden durch verschiedenfarbige „Winkel“ auf der Häftlingskleidung sichtbar gemacht und die Häftlinge nach rassistischen Kategorien und auch nach nationaler Zugehörigkeit in eine informelle Hierarchie eingeordnet. An deren Spitze standen die sogenannten „Funktionshäftlinge“, die von der SS im Rahmen einer begrenzten „Häftlingsselbstverwaltung“ mit Machtbefugnissen gegenüber ihren Mithäftlingen sowie Privilegien ausgestattet wurden (zumeist waren es kriminelle Häftlinge; in einzelnen KZs schafften es politische Häftlinge). Die Zugehörigkeit zur jüdischen Volksgruppe per se war zunächst kein Anlass für eine KZ-Inhaftierung – einzelne Juden gerieten in das KZ-System durch Verletzung von für sie spezifischen Straftatbeständen („Rassenschande“) oder in Verbindung mit anderen Zuweisungsgründen (z.B. Homosexualität). In großer Zahl wurden Juden erstmals im Gefolge der „Reichskristallnacht“ (Novemberpogrome 1938) in KZs bzw. fast ausschließlich in das KZ Dachau deportiert. Mehr als 10.000 jüdische Häftlinge kamen dabei nach Dachau, davon knapp 4.000 allein aus Wien. Dies sollte den Juden nachdrücklich demonstrieren, dass sie im nationalsozialistischen Deutschland keine Existenzberechtigung mehr hatten. Jüdische KZ-Häftlinge fanden sich in der Häftlingshierarchie durchwegs ganz unten, sie waren – zusammen mit Sinti und Roma-Häftlingen – ein bevorzugtes Ziel von Quälereien und Misshandlungen. Für die zu Kriegsbeginn im Reich verbliebenen Juden war nicht vorgesehen, sie massenhaft in KZs zu inhaftieren, vielmehr sollten sie in die besetzten Gebiete im „Osten“ abgeschoben werden (s.o.). Im Gefolge des Krieges gegen die Sowjetunion erhoben die nationalsozialistischen Machthaber schließlich die Auslöschung der jüdischen Rasse in Europa zum Ziel, das umgehend in der massenhaften Ermordung in eigens errichteten „Vernichtungslagern“ verwirklicht wurde. Als der nationalsozialistische Eroberungskrieg ins Stocken geriet, sah sich das Regime zunehmend genötigt, für den Rüstungsnachschub und für die Aufräumarbeiten in den zerbombten Städten auf Zwangsarbeit zurückzugreifen. Sogar Juden sollten nun, soweit sie arbeitsfähig waren, nicht sofort ermordet, sondern durch schwerste Arbeit vernichtet werden. Die kriegswirtschaftlich bedingte Aufwertung der Häftlingsarbeit war da und dort mit einem graduellen Rückgang des willkürlichen Terrors verbunden. Für die Doppelfunktion aus sofortiger Vernichtung und Vernichtung durch Arbeit steht insbesondere das KZ Auschwitz, in dem beide Strategien nebeneinander umgesetzt wurden. So sie nach Auschwitz gelangten, gehörten die deportierten Wiener Jüdinnen und Juden schon aus demografischen Gründen mehrheitlich zu jenen, die zur sofortigen Ermordung in den Gaskammern bestimmt waren. Das KZ Auschwitz war aber auch die Endstation für jene Wiener Jüdinnen und Juden, die auf der Flucht oder nach der Flucht in die Fänge des NS-Regimes gerieten, insbesondere wenn sie in ihren Zufluchtsländern von der deutschen Kriegsmaschinerie eingeholt und aus Sammellagern der nunmehr besetzten Länder nach Auschwitz deportiert wurden. Es ist anzunehmen, dass unter ihnen ein größerer Teil zu jenen gehörte, die durch Zwangsarbeit vernichtet wurden oder werden sollten. Eigene Zwangsarbeitslager für Juden (in Summe 700 bis 800) wurden in den besetzten polnischen und sowjetischen Gebieten zunehmend in Verbindung mit der Auflösung von Ghettos eingerichtet; während die „unproduktiven“ Ghetto-Bewohner_innen in die Vernichtungslager gebracht oder auch an Ort und Stelle ermordet wurden, waren die Zwangsarbeitslager zur Arbeitsausbeutung und Vernichtung durch Arbeit der noch arbeitsfähigen lokalen jüdischen Bevölkerung vorgesehen.

 

Ein weiteres mörderisches Kapitel der nationalsozialistischen Rassentheorien soll abschließend noch erwähnt werden: Mit den euphemistisch „Euthanasie“ (griechisch für „Schöner Tod“) benannten Aktionen zur Ermordung von „Psychopathen“, „Schwachsinnigen“, behinderten Menschen und „asozialen“ Kindern und Jugendlichen wurden schon länger propagierte rassenhygienische Überlegungen zur „Aufartung“ des Volkes und zur „Ausmerzung von Minderwertigen“ vom NS-Regime mit beispielloser Konsequenz radikalisiert und umgesetzt. Der Ausrottungsfeldzug begann parallel zur Entfesselung des Krieges durch den Überfall auf Polen, um der durch den Krieg bewirkten „negativen“ Auslese entgegenzuwirken, Lazarettraum für verwundete Soldaten zu schaffen und Behandlungs- und Pflegekosten bei „Unproduktiven“ einzusparen. Im Rahmen der „Aktion T4“ (benannt nach der Adresse der Kanzlei des Führers in der Tiergartenstr. 4 in Berlin, von wo die erste Phase der Krankenmorde organisiert wurde) wurde in insgesamt 6 Anstalten im Reichsgebiet massenhaft gemordet. Allein in der „ostmärkischen“ Euthanasie-Anstalt in Hartheim in Alkoven nahe Linz fanden 18.269 Patienten in den Gaskammern den Tod – ausgewählt aufgrund von ärztlichen Gutachten und ermordet unter ärztlicher Aufsicht. Aus Wien wurden aus der Heil- und Pflegeanstalt Am Steinhof zwischen 3.000 und 4.000, aus der der Stadt Wien gehörenden Anstalt in Ybbs 2.282, aus der im Gau Wien gelegenen Anstalt in Gugging ca. 500-600 Patient_innen sowie eine unbekannte Zahl von Insassen von Wiener Pflege- und Altersheimen nach Hartheim transferiert. Jüdische Pfleglinge hatten eine höhere Wahrscheinlichkeit, für die Euthanasie-Aktionen ausgewählt zu werden: Sie mussten ausnahmslos in öffentliche Anstalten überstellt werden und bei ihnen genügte die „Diagnose Jude“, um sie der Euthanasie zuzuführen. Als die Aktion T4 im August 1940 nach Protesten von Angehörigen und hohen Kirchenvertretern gestoppt werden musste, verlagerten sich die Mordprogramme in die Anstalten selbst: Im Rahmen der „wilden Euthanasie“ wurden tausende Patient_innen von Ärzten und Pflegepersonal vorwiegend durch Nahrungsentzug und überdosierte Medikamente ermordet. Wie viele jüdische Patient_innen dabei umkamen, ist unbekannt. Zu einem guten Teil wurden sie nämlich trotz ihrer Krankheit einfach den Transporten in die Vernichtungslager angeschlossen. Am Anfang der Aktionen zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ stand die schon im Frühjahr 1939 begonnene „Kinder-Euthanasie“: Kinder mit diversen Behinderungen oder Erkrankungen mussten gemeldet werden, wurden den Eltern abgenommen und in eine der 30 neu errichteten Kinderfachabteilungen transferiert, wo sie durch Nahrungsentzug oder Überdosierungen getötet wurden. In Wien wurde eine derartige Abteilung auf dem Gelände der psychiatrischen Anstalt mit der Bezeichnung „Jugendfürsorgeanstalt Am Spiegelgrund“ eingerichtet. Später wurden dort auch verwahrloste und „schwer erziehbare“ Kinder und Jugendlich aufgenommen, für die die Todesdrohung ständig im Raum stand. Am Spiegelgrund wurden ca. 700 Kinder und Jugendliche ermordet. Es ist wiederum davon auszugehen, dass kranke, behinderte, unangepasste Kinder und Jugendliche jüdischer Herkunft mit höherer Wahrscheinlichkeit Opfer dieser Tötungsaktionen wurden. – Die Gesamtzahl der im Rahmen der organisierten „Krankenmorde“ getöteten jüdischen Pfleglinge wird auf mindestens 500 Personen geschätzt.

Hinzuweisen ist darauf, dass die NS-Euthanasie eine Vorstufe des Holocaust bildete: Es war der erste, systematisch geplante, von staatlichen Organen durchgeführte Massenmord an einer Bevölkerungsgruppe. Dieser war in organisatorischer (Deportation in wenige Vernichtungsstätten) und technologischer (Gaskammern; Zyklon B) Hinsicht richtungsweisend. Frappierend ist die personelle Kontinuität: Große Teile des Führungspersonals der Vernichtungsstätten Belzec, Sobibor und Treblinka waren zuvor an den Euthanasieprogrammen beteiligt.

In einigen „Euthanasie-Anstalten“ (einschließlich Hartheim) standen die Gaskammern nicht lange leer: In ihnen wurden ab April 1941 nach Beendigung der Aktion T4 im Rahmen der so genannten Aktion 14f13 (ein SS-interner Code) kranke und ausgelaugte Häftlinge aus Konzentrationslagern vergast („Invaliden-Euthanasie“). Jüdische und Roma-Häftlinge wurden auch unabhängig von ihrem Gesundheitszustand in diese „Sonderbehandlung“ einbezogen.

 

Hauptsächliche Quellen:
Benz, W. und Distel, B. (Hg.): Der Ort des Terrors. München: C.H: Beck, 9 Bände, 2008
Benz, W. (Hg): Lexikon des Holocaust. München: C.H. Beck 2002
Hecht, D.J., Lappin-Eppel, E. und Raggan-Blesch, M.: Topographie der Shoah. Wien: Mandelbaum Verlag, 3. Auflage, 2017
Neugebauer, W.: Juden als Opfer der NS-Euthanasie in Wien. In: Gabriel, E. und Neugebauer, W. (Hg): Von der Zwangssterilisierung zur Ermordung. Zur Geschichte der NS-Euthanasie in Wien, Teil II, Wien/köln/Weimar: 2002, 99-111