Nach der Deportation, welche typischen Schicksale erlitten Wiener Jüdinnen und Juden?

Erstellt von Rudolf Forster, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei „Steine der Erinnerung“.

Bis zum definitiven Auswanderungsverbot für jüdische Bürger_innen des Nationalsozialistischen Deutschen Reichs am 23.10.1941 hatten bereits ca. 128.500 Jüdinnen und Juden der nunmehrigen „Ostmark“ ihre Heimat verlassen. Dafür war nicht zuletzt der entfesselte Terror der Novemberpogrome 1938 verantwortlich. In Wien wurden im Verlauf des Pogroms, der hier nicht nur eine Nacht, sondern mehrere Tage dauerte, 42 Synagogen und Bethäuser und andere jüdische Einrichtungen in Brand gesteckt und verwüstet. Tausende jüdische Geschäfte und Wohnungen wurden, so sie nicht bereits in den Monaten vorher “arisiert” worden waren, geplündert, zerstört und beschlagnahmt. Nicht jede der folgenden Zahlen ist definitiv gesichert, gibt jedoch die Größenordnungen wieder: In Wien wurden bei den Pogromen 27 jüdische Mitbürger/innen ermordet und 88 schwer verletzt, 6.547 inhaftiert und knapp unter 4.000 in das KZ Dachau deportiert. 800 Wiener Jüdinnen und Juden sollen sich in diesen Tagen und Nächten das Leben genommen haben. Spätestens da war klar geworden, dass sich die jüdischen Österreicher_innen in größter Gefahr befanden. In Folge emigrierten vorwiegend jüngere Personen, zurück blieben überproportional viele ältere und auch gesundheitlich angeschlagene Menschen, teils weil sie nicht mehr emigrieren wollten, vor allem aber, weil sie nicht rechtzeitig ein Aufnahmeland fanden. Zwischen 1939 und 1945 wurden – so sie nicht von Freundinnen und Freunden versteckt wurden – insgesamt 48.953 in Wien zurückgebliebene jüdische Bürger_innen von Wien aus in Ghettos und unterschiedliche Typen von Lagern deportiert. Ihre Überlebenschancen waren allesamt sehr gering: 47.219 bzw. 96,5% von ihnen überlebten die Nazi Herrschaft nicht, nur 1.734 bzw. 3,5% kehrten zurück.

 

Die „Steine der Erinnerung“ werden vor oder an jenen Häusern platziert, in denen die Betroffenen zumeist ihren letzten längeren bzw. selbst gewählten Wohnsitz in Wien hatten. Dem erzwungenen Auszug aus diesen Wohnungen folgte in der Regel der Umzug in beengte Sammelwohnungen und von dort schließlich die Deportation. Die Betroffenen wussten nur, dass sie „in den Osten“ „umgesiedelt“ werden sollten, aber weder den Zielort noch was sie erwartete. Sie bekamen die Aufforderung, zu vorgegebenen Zeitpunkten auf bestimmten Bahnhöfen zu erscheinen und durften nur das Allernotwendigste und einen geringen Geldbetrag mitnehmen. Die jüdische Gemeinde wurde unter Druck gesetzt, an der Zusammensetzung der Transporte mitzuwirken. Angesichts des immer häufigeren Ausbleibens von Lebenszeichen der Deportierten wurden die entsprechenden Verständigungen mit dunklen Ahnungen und schlimmen Erwartungen entgegengenommen. Diese wurden schon beim Transport bestätigt: Typischerweise umfassen die Deportationszüge ca. 1000 Personen. Nachdem diese dicht gedrängt in die bereitstehenden Eisenbahnwaggons (meist Güterwaggons) gepfercht worden waren, durchlitten sie eine qualvolle Fahrt, die bis zu 6 Tagen dauerte, voller Ungewissheit war, begleitet von Durst, Kälte oder Hitze, Hunger und fehlender Hygiene und medizinischer Betreuung. Dann wurden die Tore der Waggons geöffnet – und es waren die Tore, die vielfach direkt in eine (getarnte) Gaskammer, in einen Lastwagen, in den Verbrennungsgase eingeleitet wurden, oder zu einer Erschießungsstätte führten; oder alternativ zu einem Leben unter elenden Bedingungen, mit schwerster Arbeit, mit Quälereien und Misshandlungen – Umstände, die allesamt mit einer hohen Wahrscheinlichkeit verbunden waren, nicht lange am Leben zu bleiben. Welches Schicksal im Einzelnen die aus den Waggons taumelnden Menschen erwartete, entschied sich in Abhängigkeit von Zeit und Ort.

 

Das Holocaust-Denkmal am Wiener Judenplatz nennt insgesamt 45 Orte, an denen österreichische Juden durch Nationalsozialisten gefangen gehalten wurden, ermordet wurden oder sonst zu Tode kamen. In unseren Broschüren werden diese Schreckensorte anhand von Einzelschicksalen angeführt. Hier soll ein zusammenhängendes Bild von den mörderischen Aktionen des NS-Regimes gegenüber der noch nicht geflohenen jüdischen Bevölkerung Wiens bzw. Österreichs und der Leidensgeschichte der Opfer vermittelt werden. An anderer Stelle werden die genannten Orte der Deportation und Vernichtung im Einzelnen näher charakterisiert.

 

ZUR „JUDENPOLITIK” DES NS-REGIMES AB KRIEGSBEGINN IM SEPTEMBER 1939

Für die seit längerem zunehmend entrechteten, noch (freiwillig oder unfreiwillig) verbliebenen jüdischen Österreicher_innen war schon ab dem deutschen Überfall auf Polen am 1.9.1939 das Zeitfenster für eine reguläre Flucht weitgehend geschlossen. Bereits unmittelbar nach der raschen Eroberung Polens, im Zuge derer ungefähr 3 Millionen weitere Jüdinnen und Juden unter die Herrschaft des NS-Regimes geraten waren, begannen führende Vertreter des NS-Staates eine Debatte darüber, wie das durch Annexionen von an das Deutsche Reich angrenzenden polnischen Gebieten erweiterte deutsche Reichsgebiet „judenfrei“ gemacht werden könnte. Anfangs stand die Strategie der Vertreibung (euphemistisch „Umsiedlung“) aller im nunmehrigen deutschen Reich wohnhaften Jüdinnen und Juden in die besetzten, aber nicht-annektierten Gebiete Polens (vor allem das so genannte „Generalgouvernement“) im Vordergrund. Konkret wurde dabei zunächst die Einrichtung von eigenen „Judenreservaten“ überlegt: Zur „Erprobung“ dieses von Adolf Eichmann ausgearbeiteten Plans ergingen schon im Oktober 1939 zwei erste Transporte mit 1.584 Männern aus Wien nach Nisko am San. Die meisten der Deportierten wurden nach ihrer Ankunft einfach über die Demarkationslinie in den sowjetisch besetzten Teil Polens getrieben. Ein kleinerer Teil arbeitete an der Errichtung eines Barackenlagers. Die Idee der „Judenreservate“ wurde bald fallengelassen und schlussendlich gelangten 198 der nach Nisko Deportierten (vorübergehend) wieder in die Heimat zurück. Die nächste Stufe bildeten Deportationen in die Ghettos polnischer Kleinstädte: Die erste fand am 15. Februar 1941 statt. Die Unterbringung und Verpflegung der deportierten Wiener Jüdinnen und Juden oblag den in der Regel sehr armen lokalen jüdischen Gemeinden, die damit in der Regel heillos überfordert waren. Obwohl die jüdischen Gemeinden zumeist ihr Bestes gaben, gerieten sie dennoch durch die wachsende Repression der Besatzer immer mehr unter Druck. Als „Fremde“ waren die dorthin Vertriebenen aus Österreich (und dem „Altreich“) in einem sich zuspitzenden Überlebenskampf naturgemäß benachteiligt.

 

Mit dem Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion am 22.6.1941 radikalisierte sich der Umgang mit der jüdischen Bevölkerung der eroberten Gebiete: Unmittelbar hinter der vorrückenden Front fanden systematisch Mordaktionen durch Erschießungen durch Sondereinheiten statt. Ab Ende Juli 1941 wurden Pläne für die „Endlösung der Judenfrage“ in Europa“ erstellt und erprobt, womit nichts anderes gemeint war als die Ermordung aller im Herrschaftsgebiet des Nazi-Regimes lebenden Jüdinnen und Juden. Was zum Teil schon gängige Praxis war, wurde bei der „Wannseekonferenz“ am 20.1.1942 auf Initiative und unter Federführung von Reinhard Heydrich (Chef des Reichssicherheitshauptamtes) mit allen beteiligten Stellen des NS-Regimes akkordiert und besiegelt: Die Mordaktionen sollten zukünftig in eigens dafür eingerichteten Vernichtungsstätten und in ausgewählten Konzentrationslagern durch giftiges Gas (Zyklon B) in Gaskammern erfolgen. Entsprechende Mordaktionen waren bereits – unter anderem mit sowjetischen Kriegsgefangenen – getestet worden. Zur Verschleierung wurde allerdings weiter von „Aussiedlung“ und „Evakuierung“ gesprochen. Unter den Vorzeichen einer sofortigen Ermordung erfolgten die großen Deportationen aus Wien zwischen Oktober 1941 und Oktober 1942.

Da mit dem Stocken der „Blitzkriegs“-Strategie bereits ab Herbst 1941 absehbar war, dass die Kriegswirtschaft im Reich nicht darauf eingestellt war und zunehmend auf die Ausbeutung der Arbeitskraft von Gefangenen aller Art angewiesen war, wurden deportierte und lokal ansässige Jüdinnen und Juden nicht mehr wahllos sofort ermordet, sondern zunehmend zur Zwangsarbeit herangezogen. Das führte einerseits zur verschärften „Selektion der Unbrauchbaren“ (Kranke, Alte und Kinder), die weiterhin möglichst umgehend ermordet wurden; andrerseits zur Verrichtung von schwersten Arbeiten bei gleichzeitig extrem harten Lebensbedingungen für die Arbeitsfähigen. Zwangsarbeit stellte also meist ein indirektes Todesurteil dar: die „Vernichtung durch Arbeit“ – durch Entkräftung, Krankheit oder Gewaltausübung seitens des Wachpersonals. Gleichzeitig wurde Arbeitsfähigkeit zu einer kleinen Überlebenschance. Die Zwangsarbeit wurde typischerweise in Konzentrationslagern bzw. deren Nebenlagern und in eigenen Zwangsarbeiterlagern verrichtet. Die noch bestehenden Ghettos wurden allmählich aufgelöst.